Warum es Achtsamkeit bis in die Universitäten geschafft hat.

Warum es Achtsamkeit bis in die Universitaeten geschafft hat

von Uwe Gränitz

Dr. Matt Killingsworth, amerikanischer Psychologe, hat eine App entwickelt. Mit „Track Your Happiness“ erfasst er in Echtzeit die Gefühle der Nutzer. Mit einem überraschenden Ergebnis: Wir sind am glücklichsten, wenn wir uns ganz auf das Jetzt konzentrieren. Tagträume dagegen machen unglücklich.[1]

Darum geht es bei Achtsamkeit, zu erkennen, was eine förderliche Selbsthaltung für mich ist, durch die ich Leid, Stress und Schmerzen minimieren kann. Das sagt Prof. Dr. Stefan Schmidt, Leiter der Forschungsgruppe Mediation, Achtsamkeit und Neurophysiologie am Universitätsklinikum in Freiburg.

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Für ihn kennzeichnet sich unsere Gesellschaft dadurch, dass sie die Muße ins Abseits gedrängt hat und kaum noch Zeit für Leerlauf, Langeweile, für gemächliche Reflexion und das produktive Herumgammeln gibt. Dabei, so denkt er weiter, ist die Muße ein wichtiger Nährboden: Muße ist gleich Kreativität ist gleich Ideenreichtum und gleich Achtsamkeit. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Auto und werden geblitzt, weil Sie zu schnell  gefahren sind. Und Sie bemerken, dass Sie sich ärgern. Aber an der Situation können Sie doch gar nichts mehr ändern. Und billiger wird es auch nicht, wenn Sie sich stundenlang grämen. Und jetzt wird es nicht leicht: Versuchen Sie die Situation so zu akzeptieren, wie sie
ist.
Prof. Schmidt sagt dazu: Ein Ziel der Achtsamkeit ist also, hilfreichere Wege zu finden, wie man etwas umgehen kann. Kurz formuliert geht es darum, Angenehmes loszulassen und Unangenehmes zu akzeptieren. Das klingt erst einmal paradox. Aber es zeigt sich, dass wir
Menschen sehr oft Vorstellungen davon haben, wie etwas sein soll, und wenn es dann so ist, befriedigt es uns doch nicht oder nur sehr kurzfristig. Die Dinge so zu akzeptieren, wie sie gerade sind, bringt Zufriedenheit.

Ein Ziel der Achtsamkeit ist also, hilfreichere Wege zu finden, wie man etwas umgehen kann.
Prof. Dr. Stefan Schmidt, Freiburg

Zu erleben ist, wie die Achtsamkeitsmeditation in der breiten Masse angekommen ist, formuliert ein Artikel aus der Zeit. Eingesetzt als Allzweckwaffe zur Optimierung sämtlicher Lebensbereiche einerseits, immer ernster genommen von Medizinern und Psychotherapeuten etwa bei chronischen Schmerzen, Süchten, Depressionen sogar Krebs andererseits.
Der Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn hat diese Form der Meditation, die ursprünglich aus dem Buddhismus kommt, in den 70igern entwickelt. Es geht darum, sich auf körperliche oder emotionale Empfindungen zu konzentrieren: solche Zustände zu bemerken aber nicht zu bewerten. Vielleicht haben Sie Angst vor einer wichtigen Präsentation und Sie bemerken diese Angst. Aber steigern sich weder in die Furcht hinein noch versuchen Sie diese zu unterdrücken. Zwischen Reiz und Reaktion wird ein Zwischenschritt geschaltet, wenn diese neue Haltung beherrscht wird.

Viele Studien gibt es mittlerweile zu dem Thema Achtsamkeit. Interessant ist auf jeden Fall, dass sich im deutschsprachigen Raum in Bezug auf Führung und Achtsamkeit diverse Theorien finden, jedoch nur wenige empirische Studien. Das könnte vielleicht daran liegen, dass die meisten Studien mit ehemaligen Teilnehmern von Kursen für Achtsamkeit durchgeführt werden. Auf jeden Fall sagt die Theorie authentischer Führung[2], dass Achtsamkeit bei Führungskräften ihre Glaubwürdigkeit steigert.

Eine uralte Forschungsmethode

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Paul Grossmann vom Unispital in Basel beschreibt in einem Artikel das Üben von Achtsamkeit. Dabei bezieht er sich u.a. auf eine uralte Forschungsmethode. Das Kernstück bildet ein systemisches Programm, welches etwa vor 2300 Jahren schriftlich niedergelegt wurde. In den meisten Fällen beginnt das Üben von Achtsamkeit mit der Beobachtung der Atmung. Und bei der Abhandlung Anapanasati Sutra mit dem Titel „Diskurs über das volle Bewusstsein beim Atmen“ von ca. 500 v.Chr. könnte es sich um die älteste überlieferte detaillierte Anweisung für das Vorgehen bei einer Meditation handeln. Die gekürzte Version lautet folgend[3]:

„Nun, wie wird Achtsamkeit gegenüber dem Ein- und Ausatmen entwickelt und verfolgt, um zu einem vollständigen Bewusstsein des Körpers, der Gefühle, der geistigen Formationen und der Art zu gelangen, wie die Dinge für sich selbst betrachtet sind?
Fortwährend achtsam, atmet man ein; achtsam atmet man aus.
Beim langen Einatmen weiß man: ,ich atme lang ein‘. Beim langen Ausatmen weiß man: ,ich atme lang aus‘.
Beim kurzen Einatmen weiß man: ,ich atme kurz ein‘. Beim kurzen Ausatmen weiß man: ‘ich atme kurz aus’.
Man übt sich selbst: Einfühlsam für den ganzen Körper, atme ich ein, atme ich aus.
Man übt sich selbst: Einfühlsam für Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle, atme ich ein, atme ich aus.
Man übt sich selbst: Einfühlsam für geistige Formationen, atme ich ein, atme ich aus.
Man übt sich selbst: Einfühlsam für Wandel und Veränderungen, atme ich ein, atme ich aus.“

Diesem Diskurs zufolge stellt der Atem sowohl das Vehikel als auch das zentrale Eingangstor dar, durch das die Achtsamkeit entwickelt werden kann und Einsichten über das Wesen der inneren und äußeren Prozesse und Ereignisse gewonnen werden können, die für Menschen wahrnehmbar und verständlich sind.
Weshalb gerade der Atem einen idealen Ausgangspunkt für die Praxis der Entwicklung achtsamer Aufmerksamkeit bildet, liegt auf der Hand: Atmung als fortwährende und lebensnotwendige physiologische Funktion, für das Leben unerlässlich und dennoch normalerweise vom Atmenden nicht wahrgenommen. Und der Rhythmus des Atmens beeinflusst auch andere rhythmisch oszillierende physiologische Systeme, wie z.B. den Herzschlag, den Blutdruck und die Aktivitäten des Zentralnervensystems[4]. Wenn man seine Aufmerksamkeit dem Atem zuwendet, bedeutet das daher auch, eine mächtige physikalische Resonanzkraft im Körper zu beobachten, die sich direkt oder indirekt auf andere lebensnotwendige Prozesse auswirkt.

Halten wir an einem illusorischen Gefühl einer beständigen Identität fest?

Und jetzt wird es spannend. In unserer westlichen Welt ist das Konzept eines stabilen Ichs, einer Persönlichkeit oder eines Selbst allgegenwärtig. Kompetenzerwerb steht meist an erster Stelle. Und das ist die Erweiterung und Vertiefung von Wissen. Im Buddhismus aber ist die Vorstellung eines klar abgegrenzten, größtenteils unveränderlichen Selbst eine Illusion [5]. Das herkömmliche Selbstkonzept wird lediglich als lose zusammenhängendes Bündel vergänglicher körperlicher und geistiger Elemente betrachtet, einschließlich des Körpers selbst sowie der Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken und anderer geistiger Zustände, die in unser Bewusstsein dringen [6].
Und wenn wir dem buddhistischen Gedankengut folgen, heißt das, das wir in unserer westlichen Welt an einem illusorischen Gefühl einer beständigen Identität festhalten, motiviert von Wünschen und Aversionen und hergeleitet aus unserer Unfähigkeit, ein achtsames Bewusstsein aufrechtzuerhalten. Wenn man die Aufmerksamkeit jedoch auf die Erfahrungen des gegenwärtigen Augenblicks lenkt, wird einem klar, wie unbeständig und veränderlich all die Eigenschaften sind, die wir als unser „Selbst“ ansehen: Im Laufe der Zeit verändern sich unsere Körper in ihrer Erscheinung und ihrem tatsächlichen physischen Aufbau, und auch unsere Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken befinden sich in einem ständigen Fluss [5].
Vielleicht bringt da folgender Scherz unter Buddhisten ein wenig „Humor“ in diese Überlegungen:

„Meister, Meister wie lange brauche ich bis zur Erleuchtung?“
„Nun, vielleicht 20 Jahre.“
„Und wenn ich mich wirklich sehr anstrenge?“
„Dann 40 Jahre.“

Wenn wir fachlich immer besser werden und/oder neues Verhalten lernen, können wir das als horizontale Entwicklung bezeichnen. Vertikal erweitert sich auch das Denken; der Radius und die Zahl wahrgenommener Aspekte wird größer. Nach Harvard-Professor Robert Kegan liegt dabei der Unterschied beim Lernen in In-Formation und Trans-Formation. Bei der In-Formation wird sozusagen neuer Inhalt in ein Gefäß gefüllt, bei der Trans-Formation entsteht ein neues, zusätzliches Gefäß [7].

Grafik: www.I-E-Profil.de

Es geht um eine grundlegend andere Perspektive auf die Welt

Schlagen wir den Bogen zurück zu unserem Thema, können wir vielleicht die Gefahr erspüren, Achtsamkeit nur als reines Aufmerksamkeitstraining zu sehen, eine zusätzliche Kompetenz angepasst an die Wertmaßstäbe unserer Gesellschaft. Grossman formuliert da sehr trefflich: „Es geht ja nicht darum, stundenlang reglos auf einem Kissen zu sitzen. Achtsamkeit heißt, sich nicht ständig von Begierden und Ängsten treiben zu lassen, sondern sich der Realität mit Offenheit, Mitgefühl, Toleranz, Geduld und Akzeptanz zuzuwenden – so gut es eben geht. Das hat nichts mit Resignation oder passivem Gutheißen zu tun. Es geht eher um eine grundlegend andere Perspektive auf die Welt: Statt nur um unsere eigennützigen Interessen, Verluste und Aversionen zu kreisen, weitet man den Blick fürs große Ganze.“ Es geht darum, das Leben in seiner Tiefe anzunehmen. Sich den unvermeidbaren Aspekten des Lebens zuzuwenden. Diese Zuwendung zu oft schwierigen und vielleicht schmerzhaften Erfahrungen kann nicht gelingen, ohne dabei ein gewisses Maß an Geduld, Gleichmut, Mitgefühl und sogar Mut zu entwickeln.

Wie ist das jetzt mit der Zeit? Rennen Sie ihr hinterher? Oder werden Sie von Ihren Terminen gejagt? Aber vielleicht ist es auch an der Zeit, ausgetretene Bahnen zu verlassen und Neues zu erkunden. Sich nicht mehr horizontal sondern vielmehr vertikal zu entwickeln. Halten Sie inne. Atmen Sie durch. Atmen Sie tief durch…

Geführte Meditation 

Audio

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Lassen Sie sich begleiten – auf der Suche nach ….

Individuelles Coaching

persönlich, digital via Video

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Lassen Sie sich von erfahrenen Coaches dabei helfen, Bilanz zu ziehen, hinter die offensichtlichen Dinge zu schauen und sich selbst neu auszurichten – auch wenn die Veränderungen schlussendlich vielleicht nur geringe sein.

Offener Workshop

digital und analog

Lassen Sie sich durch einen Prozess der Selbstreflexion führen, tauschen Sie sich mit Anderen aus, denen es ähnlich geht, und erweitern Sie ihre mentalen Landkarten mit Hilfe gezielter Impulse. 

[1] Und wenn sie die Muße verspüren, sich mit seinen Erkenntnissen mehr zu beschäftigen, dann bietet sich dieser TED- Vortrag an:

[2] Avolio, B. J., & Gardner, W. L. (2005). Authentic leadership development: Getting to the root of positive forms of leadership. The Leadership Quarterly, 16(3), 315–338. https://doi.org/10.1016/j.leaqua.2005.03.001

[3] in Anlehnung an Bhikkhu d. Nanamoli & Bhikkhu Bodhi (1995). The middle length discourses of the Buddha : a new translation of the Majjhima Nikaya : translated from the Pali,

[4] Paul Grossman (1983). Respiration, Stress, and Cardiovascular Function, https://doi.org/10.1111/j.1469-8986.1983.tb02156.x

[5] Paul Grossman, Das Üben von Achtsamkeit: Eine einzigartige klinische Intervention für die Verhaltenswissenschaften, in: Heidenreich, Thomas / Michalak, Johannes (Hrsg.), Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie – Ein Handbuch, dgvt Verlag, Tübingen 2009, https://www.unispital-basel.ch/fileadmin/unispitalbaselch/Bereiche/Medizin/Psychosomatik/Lehre_Forschung/Publikationen/grossman_in_heidenreich_ueben_achtsamkeit.pdf, 16.02.2021

[6] Joseph Goldstein (1993). Insight Meditation, Shambala Publications Inc., Boston

Larry Rosenberg (1998). Breath by Breath. The Liberating Practice of Insight Meditation. Shambala Publications Inc., Boston, https://www.academia.edu/27805127/_Larry_Rosenberg_Breath_by_Breath_The_Liberating, 17.02.2021

[7] Svenja Hofert (2016). Ich-Entwicklung: Die vergessene Ebene der Persönlichkeit, https://karriereblog.svenja-hofert.de/psychologie/ich-entwicklung-die-vergessene-ebene-der-persoenlichkeit/, 16.02.2021

Titelphoto: John Baker on Unsplash

Autor: Uwe Gränitz

Autor: Uwe Gränitz

Coach und Moderator, graenitz.consulting

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