Der Bruch ist unausweichlich

Über Lebensphasen und Selbstdiskrepanzen

Der Bruch ist unausweichlich - über Lebenphasen und Selbstdiskrepanzen

von Dieter Bickenbach

Es beginnt damit, dass Sie schaudern, wenn Sie darüber nachdenken, ob Ihr Leben jetzt in den eingeschliffenen Wegen so weitergehen soll. Vielleicht sind Sie auch schon so unzufrieden mit der eigenen Situation, dass sich die Erkenntnis, es müsse sich was ändern, nicht mehr verdrängen lässt. Ist das normal? Woran liegt es, dass so viele Menschen ihres Erfolges überdrüssig werden? Wir wollten mehr darüber wissen und haben uns auf die Suche gemacht.

Kieran Setiya, Philosophieprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), hat es in einem Artikel des Harvard Business Review wie folgt beschrieben:

„Als fest angestellter Philosophieprofessor an einer angesehenen Universität hatte ich die Karriere meiner Träume. Ich hatte es durch die Graduiertenschule geschafft, den mühsamen Aufstieg von „Veröffentlichen oder untergehen“ und den Stress der Suche nach einer Festanstellung und Beförderung. Ich hatte eine Frau, ein Kind und eine Hypothek. Ich tat das, was ich liebte, und doch fühlte sich die Aussicht, Woche für Woche, Jahr für Jahr mehr davon zu tun, bedrückend an. (…) Meine Karriere erstreckte sich vor mir wie ein Tunnel. Ich befand mich in einer Midlife-Crisis.

Ich entdeckte schnell, dass ich nicht allein war. Als ich Freunden von meiner Notlage erzählte, reagierten sie mit Witzen, aber auch mit ähnlichen Geschichten von Burnout, Stillstand und Bedauern inmitten von scheinbarem Erfolg. Vielleicht haben Sie dasselbe von Mentoren oder Gleichaltrigen gehört. Vielleicht erleben Sie dies auch selbst.

Eine Fülle neuerer Untersuchungen bestätigt, dass das mittlere Alter im Durchschnitt die schwierigste Zeit des Lebens ist. Im Jahr 2008 fanden die Wirtschaftswissenschaftler David Blanchflower und Andrew Oswald heraus, dass die Selbsteinschätzung der Lebenszufriedenheit die Form eines sanft gekrümmten U hat, das in der Jugend hoch beginnt, mit Mitte 40 seinen Tiefpunkt erreicht und sich dann mit zunehmendem Alter erholt. Das Muster ist auf der ganzen Welt robust und betrifft sowohl Männer als auch Frauen. (…) Die durchschnittliche Zufriedenheitslücke zwischen dem Alter von 20 und etwa 45 Jahren ist vergleichbar mit dem Rückgang der Lebenszufriedenheit, der damit einhergeht, gefeuert zu werden oder eine Scheidung zu erleben.“[1]

Mit anderen Worten, die Mid-Life-Crisis ist ein reales Phänomen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Midlife-Crisis vermutlich nicht die erste, aber im Sinne der Aussagen von Setiya vielleicht die intensivste Phase der Neuorientierung ist, kann man mit einer Reihe von Autoren unterschiedliche Lebensphasen unterscheiden. Bernard Lievegoed, ein niederländischer Arzt und Organisationsentwickler geht von vier Lebensphasen aus, die wiederum in jeweils drei Mal sieben Jahre unterteilt sind. Die Kindheit, die Erwachsenheit, die Reife und das Alter. Die Midlife-Crisis ist am Übergang von Erwachsenheit zur Reife verortet. Jede dieser Phasen ist von speziellen Herausforderungen geprägt, die es zu lösen gilt.

„Midlife-Krise: Ich fühle, ich muss mich entscheiden, was ich weiterverfolgen und was ich loslassen will. Ich muss lernen, mein Leben zunehmend aus einer überpersönlichen, höheren Warte aus zu sehen und zu gestalten. Nur so kann ich eine neue Kreativität finden.

Jetzt, an diesem Wendepunkt, gilt es, meine innersten Visionen, Ideen und Leitbilder zu verwirklichen. Bemühe ich mich, mein höheres Selbst zu verwirklichen, kann es zum Durchbruch geistiger Inspirationen und spiritueller Kräfte kommen. Dann bin nicht ich es, der denkt und waltet, sondern der Geist in mir.

Die Gefahr dieser Zeit liegt darin, dass ich mich den neuen Anforderungen nicht stelle, dass ich vor mir selbst und meinen wirklichen Aufgaben fliehe und alle Zweifel mit noch mehr Arbeit, Sport, anderen Partnern oder Drogen in die Flucht zu schlagen versuche. Die langfristigen Schattenseiten dieses Tuns können sich in Zynismus, Pessimismus oder Erstarrung äußern.“[2]

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Andere Autoren ziehen die Grenzen an etwas anderen Stellen. Auf Grundlage von Edgar Scheins Buch „Career Dynamics: Matching Individual and Organizational Needs“ und einer Aufbereitung der Maslow‘schen Idee der Self-Actualisation durch den us-amerikanischen Autor Len Sperry werden unter www.gluecksarchiv.de im Erwachsenenalter beispielsweise 6 Phasen unterschieden[3]. Der Grundgedanke einer jeweils dominierenden Fragestellung bleibt jedoch immer aufrechterhalten. Anfang der 40er geht es fast immer um die Frage, Entscheidungen zu treffen, wie ich mein weiteres Leben ausrichten will.

Das Defizit all dieser Konzepte liegt auf der Hand. Es mag sein, dass es all diese Phasen in dieser Reihenfolge gibt. Die empirischen Untersuchung, die Setiya erwähnt, deuten darauf hin. Wann genau und in welcher Stärke sie auftreten unterscheidet sich jedoch je nach Individuum. Die eine erlebt den Umbruch früher, der andere später. Es ist also kein Wunder, dass andere Konzepte die Entwicklungsphasen anders definieren. Das unseres Erachtens interessanteste Modell ist Jane Loevingers Stufenmodell der Ich-Entwicklung zur Bedeutungskonstruktion. Die Bezeichnung deutet schon an, warum wir zu dieser Einschätzung gekommen sind. Loevinger hat ein Modell mit 10 Stufen der Ich-Entwicklung beschrieben, „indem sie „Bedeutung“-erzeugende Aspekte aus mehreren Modellen verknüpft“[4]. Dabei steht „Bedeutung“ für den Sinn einer sprachlichen Äußerung oder die Wichtigkeit, die einem Gegenstand beigemessen wird. Das Modell entstand auf Grundlage von Studien familiärer Interventionsmuster, in denen Loevinger Regelmäßigkeiten entdeckte, die sie nicht erklären konnte und schließlich als Entwicklungssequenzen deutete[5]. Wichtig in diesem Modell ist, dass es keine zwangsläufige Verknüpfung von Entwicklungsstufe und Lebensalter gibt. Vielmehr bedeutet Entwicklung, dass wir Denkstrukturen oder – neu-deutsch – Mental-Maps, mit denen wir unsere Umwelt zu verstehen und zu erklären suchen, nach und nach ausdifferenzieren. Ein Beispiel:

„Auf der konformistischen Stufe identifiziert sich das Selbst mit der Gruppe, welche Gruppe das auch sein mag: die Familie in der Kindheit und später die Gruppe der Gleichaltrigen usw. Das Denken erfolgt in Stereotypen; die Gefühlspalette ist auf grundlegende Emotionen beschränkt – glücklich, traurig, verrückt, froh usw. – aber sie ist schon größer als in früheren Phasen.“

Auf der Stufe des Selbstbewusstseins ist „die Person (…) über die vereinfachten Regeln und Ermahnungen des Konformisten hinausgegangen, um zu sehen, dass es zulässige Eventualitäten und Ausnahmen gibt. Obwohl er im Grunde immer noch ein Konformist ist, ist sich die Person auf dieser Ebene bewusst, dass er oder sie nicht immer den erklärten Standards der Gruppe entspricht. Es gibt eine größere emotionale und kognitive Bandbreite.“[5]

Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass ich auf einer Entwicklungsstufe stehen bleiben und dort glücklich leben kann, wenn und solange mich grundlegende Glaubenssätze auf dieser Ebene festhalten.

Was auch immer also den oft krisenhaften Entwicklungsschub auslöst, den wir alle in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen erleben, stellt sich die Frage, was da eigentlich in uns und mit uns passiert. Im Unterschied zu Kieran Setiya, der meint, die Gründe für die Midlife-Crisis seien noch unbekannt, sind wir der Auffassung, dass hier ein anderes psychologisches Konzept weiterhilft, die Selbst-Diskrepanz.

„Die Selbstdiskrepanz-Theorie besagt, dass Personen ihr „tatsächliches“ Selbst mit verinnerlichten Standards oder dem „Ideal/Soll-Selbst“ vergleichen. Inkonsistenzen zwischen dem „tatsächlichen“, dem „idealen“ (idealisierte Version von sich selbst, die aus Lebenserfahrungen entstanden ist) und dem „Soll“ (wer Personen meinen, sein oder werden zu sollen) werden mit emotionalem Unbehagen in Verbindung gebracht (z. B. Angst, Bedrohung, Unruhe). Selbstdiskrepanz ist die Lücke zwischen zwei dieser Selbstrepräsentationen, die zu negativen Emotionen führt.“[6]

Ist es das jetzt gewesen? Könnte ich nicht noch viel mehr oder anderes aus meinem Leben machen? Wenn wir beginnen, über diese Fragen nachzudenken, gibt es einen zunehmend unangenehmen Unterschied zwischen dem, wie wir sein wollen oder sollen, und dem, wie wir uns gerade selber sehen.

Was mache ich nur mit meinem Leben? So sehr ich meine Kinder liebe, soll ich meine Fähigkeiten und Talente etwa weiter als Hausfrau und Mutter verschwenden?

Das Startup ist erfolgreich verkauft. Es ist gutes Geld geflossen. Jetzt wäre doch die Gelegenheit mich endlich mehr meiner Familie, meinen Kindern zu widmen und ein Nest zu bauen, oder?

Aus dem Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte oder sollte, entstehen unangenehme Gefühle. Das ist am Anfang ein gewisses Unwohlsein, eine Unzufriedenheit, ein leises Grummeln in der Magengrube. Wenn wir diese Gefühle ignorieren, werden sie stärker. Wir beginnen, Dinge aufzuschieben. Wir werden gereizt und ärgern uns über fehlende Selbstdisziplin. Wenn‘s ganz schlimm kommt, entwickeln wir Depressionen. Setzen wir uns aber aktiv mit dieser Dissonanz auseinander, passiert erstaunliches. Edward Tory Higgins, der diesen Ansatz entwickelte, hat in einer Studie herausgefunden, dass wir uns glücklich und zufrieden fühlen, wenn wir die Diskrepanz zwischen tatsächlichem und idealisiertem Selbstbild auflösen können. Ruhig und sicher geht es uns, wenn wir das mit dem tatsächlichen Selbstbild und dem vermeintlichen Fremdbild schaffen.[7]

Die Konsequenz ist hoffentlich offensichtlich. Gehen sie nicht einfach drüber weg. Ignorieren hilft nicht. Arbeiten sie dran! Je früher sie beginnen, desto einfacher lässt es sich auflösen.

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[1] Career Planning – Facing Your Mid-Career Crisis by Kieran Setiya, Harvard Business Review, March–April 2019, https://hbr.org/2019/03/facing-your-mid-career-crisis, 22.01.2021, übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)

[2] Bernard Lievegoed: Lebenskrisen-Lebenschancen. Die Entwicklung des Menschen zwischen Kindheit und Alter. Kösel-Verlag, München 2001, zitiert nach Günther Karner, Erkenne dich selbst, die Lebensphasen des Menschen, in: TrigonThemen, 03/2019, Trigon Entwicklungsberatung GmbH, Selbstverlag, Graz (Österreich)

[3] https://www.gluecksarchiv.de/inhalt/lebensphasen.htm, 25.01.2021

[4] Wikipedia: Entwicklungspsychologie, https://de.wikipedia.org/wiki/Entwicklungspsychologie, 25.01.2021

[5] Wikipedia: Ich-Entwicklung, https://de.wikipedia.org/wiki/Ich-Entwicklung, 25.01.2021

[6] Wikipedia (englische Version), Self-discrepancy theory, https://en.wikipedia.org/wiki/Self-discrepancy_theory, 26.01.2021 (Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator)

[7] Higgins, E. T. (1987). Self-discrepancy; A theory relating self and affect, Psychological Review, 94, 319–340, zitiert nach Wikipedia (englische Version), Self-discrepancy theory, https://en.wikipedia.org/wiki/Self-discrepancy_theory, 26.01.2021

Titelphoto: Free To Use Sounds on Unsplash

Autor: Dieter Bickenbach

Autor: Dieter Bickenbach

Co-Gründer und Geschäftsführer des geschaeftswarenladens

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